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OHNE TITEL, 2

W. W., von seinen Freunden Woody genannt, hat zwar nichts zu tun, soll dies aber sofort erledigen. Er befindet sich durch diesen Sachverhalt, welcher mathematisch durch die Division Null durch Null treffend beschrieben wird, in einem Zustand unerklärlicher Erregung, welcher seinen Vorstellungen von Schwerelosigkeit nahekommt: So, als ob seine inneren Organe ihre angestammten Plätze verlassen und sich auf Wanderschaft begeben hätten.

W. W. ist wissenschaftlich ausreichend geschult, um die Bedeutung eines Quotienten, dessen Divisor gleich dem Dividenden ist und welcher trotzdem nicht den Wert "Eins" annimmt, weil sowohl der Wert des Divisors als auch jener des Dividenden verschwunden, das heißt gleich Null geworden ist, zu erkennen. Neu für ihn ist jedoch der Umstand, daß es sich hier um eine Bruchzahl unbestimmten Wertes handelt, bei welcher er selbst in etwa die Funktion des Bruchstriches innehat, und siedend heiß überläuft es ihn bei dem plötzlichen Verdacht, er könnte sich eventuell auf einem singulären Punkt befinden.

"Sofort Zähler und Nenner differenzieren!" ist seine erste spontane und unwillkürliche Reaktion. Zu seinem Glück gelingt ihm dies nicht auf Anhieb, wodurch er Zeit gewinnt für eine zweite und etwas weniger unbedachte Reaktion: Was mögen wohl die Auswirkungen der unverzüglichen Differentiation auf seine Person sein, fragt er sich. Hieße das nicht eventuell, den zugegeben singulären, aber offenbar leidlich sicheren Punkt zugunsten eines unbestimmten Aufenthaltes aufzugeben? Was, wenn dadurch der Quotient einen zwar bestimmten, endlichen, aber ganz und gar unverträglichen Wert annähme? Wahrlich keine verlockende Aussicht!

Weder durch seine bisherigen Erfahrungen, noch durch seine Ausbildung auf eine derartige Situation vorbereitet, beginnt W. W., der nun sein Verweilen auf einem singulären Punkt als Tatsache akzeptiert hat, anfangs fast ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, sich nach einem verläßlichen Kontinuum zu sehnen, während er mehr und mehr die Kontrolle über seine Gedanken verliert.

Wie aus der Ferne nimmt er die Annäherung eines Kollegen wahr, ohne diesen überhaupt zu erkennen. "Könntest Du für mich..." beginnt der Kollege, welcher gekommen ist, um W. W. eine neue Arbeit zu übertragen. W. W. vernimmt die Worte, ohne deren Sinn zu verstehen, weil sich sein singulärer Punkt plötzlich in eine rasende Aufwärtsbewegung versetzt hat. "Das ist die Division durch Null!" ist W. W.'s letzter bewußter Gedanke, der sich angesichts der ungewöhnlichen Lage, in welcher sich W. W. befindet, durch erstaunliche Klarheit auszeichnet.

Als W. W. wieder zu sich kommt, sieht er die Gesichter seiner Kollegen, welche sich über ihn beugen. Im Mund hat er den Geschmack von Branntwein, auch sein Hemd riecht intensiv danach: Offenbar ist ein wenig davon verschüttet worden. Noch leicht benommen hört er den Satz, den sein Kollege ständig wiederholt; den Sinn versteht er nicht: "Ich habe Dir ohnehin gesagt, Du kannst Dir Zeit lassen, ich brauche es nicht sofort!"

Nur die Mathematiker unter uns wissen jetzt, daß durch diesen letzten Satz der Quotient wieder einen endlichen Wert angenommen hat und dadurch W. W. aus seiner mißlichen Lage befreit worden ist. Die Wahrscheinlichkeit für so ein Ereignis beträgt überdies ungefähr 1:100 000 000 000 000 000; aber was bedeutet das schon!