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DIE MITTAGSPAUSE

Die Montags-Mittagspause ist G.'s liebste Mittagspause: Da hat der Fleischhauer, dieser Tierkörperverwerter und Wurst-Dealer, bis sechzehn Uhr geschlossen. Die Kollegen, welche sonst mittags bei ihm ihre Bons (von ihnen auch Schweinsbratenausweise oder passe porc genannt) gegen Wurstwaren und Käse einlösen und im Büro verzehren, gehen dann ins nahe Beisel "Zum lustigen Radlfahrer" essen.

"Sage mir, was Du ißt, und ich sage Dir, was Du bist" sagen sie an den anderen Tagen zu ihm, und anderen unreflektierten Unsinn. 'Unkrautvertilgungsmittel' haben sie ihn unlängst genannt. Und der Chef, der ermutigt sie unverständlicherweise in ihrer intoleranten Haltung. "Hast heut' Früh schon wieder den Schweindeln das Futter aus dem Trog gestohlen?" fragt er in unregelmäßigen Abständen, aber mindestens zweimal im Monat, und kommt sich dabei noch besonders freundlich vor. Statt daß er sie bremsen würde.

Nie würde G. einem Schwein etwas wegnehmen, und schon gar nicht sein Essen. Bruder Baum: Ja. Warum denn nicht auch Bruder Schwein? Aufgebracht stochert er mit der Gabel im Gurkenfaß herum, welches sein Mittagsmahl enthält: Ausgesuchte Blätter und Gräser, fein geschnitten, zarte Rübenschnitzel und allerlei Wurzelwerk, gewürzt mit einer milchigen Flüssigkeit. "Futter" sagen die Kollegen, diese halblustigen Radlfahrer.

Wenn der Philodendron im Aufenthaltsraum ein neues Blatt ansetzt, dann ergehen sie sich in versteckten Andeutungen und halten ihn betont unauffällig mit gespielter Sorge davon fern. "Die Geschmäcker sind ja bekanntlich verschieden", sagen sie, und "... man kann nie wissen!" Dafür darf der Chef seine Zigarette ausdrücken im Blumentopf. Unverständlich, wo er doch selbst so ein Blumennarr ist: "Der Chef ist eigentlich nur mehr für die Zimmerpflanzen im Büro zuständig," heißt es, "wir haben den Boß zum Gärtner gemacht." Außer, er sitzt gerade wieder bei irgendjemandem, erzählt ihm Geschichten und hält ihn von der Arbeit ab.

Aber die Raucher, diese Terroristen, sind ja ein eigenes Kapitel (ein weiteres übrigens die Chefs). G. hat nur einmal Tabak ausprobiert. Da er ihn nicht nur gekaut, sondern auch geschluckt hat, ist ihm davon schlecht geworden.

In der schönen Jahreszeit, wenn sie mittags in den Garten gehen, gelingt es ihm, sich ein wenig von den anderen abzusondern. "Gehst schon wieder grasen?" rufen sie ihm dann nach. "Oder heißt das bei Dir äsen?" Dann gibt er vor, seine Schuhbänder zu richten, wenn er sich bückt, und kaut langsamer an seinen Halmen, um sich nicht zu verraten. "Ich sprang nur über Gräbelein und fand kein einzig Blättelein, mäh, mäh!" heißt es dann nach der Mittagspause.

Es genügt, daß Du Dich durch irgendeine Kleinigkeit von den anderen unterscheidest, und schon bist Du versorgt. Rassistische Wurstfresser, die zerstückelte Tierkadaver essen, in Därme gestopft, Kannibalen, die! Ersticken sollen sie daran. Mit solchenen Sticheleien beim Essen fängt es an, zur Reichskristallnacht führt es. Fleischmafia, faschistische.

Und erst die Hundehalter! Können einfach nicht verstehen, daß ihre lauten, fleischfressenden, die Gegend verschmutzenden Viecher kein Gesprächsthema sind für einen sensiblen Menschen. Freilich, kein Köter kann gescheiter sein als sein Herrl, so dumm dieses auch sein mag.

Wenn überhaupt Fleisch, so würde er nur Hunde essen, und zwar um sie auszurotten. G. hält kurz inne und denkt verklärten Blickes an China, wo man dem Chow-Chow nur bei Tische begegnet: Gesurt oder doppelt gebraten, süß-sauer und mit Morcheln gefüllt, mit Glasnudeln garniert. Dann führt er vorsichtig die volle Gabel zum Munde. Der Saft der roten Rübe färbt sein Kinn und tropft auf die Zeitung, welche G. zum Mittagessen liest.

Unlängst hat er ihnen gesagt, den lieben Kollegen, was sie selber essen: 'Junk food' heißt das in Amerika! "Und was Du ißt, heißt G'stank-food bei uns!" hatte der Tiroler, der sich diesbezüglich gar nicht so aufspielen sollte, geantwortet. Einer, der Tiroler Graukas ißt, der ist besser vorsichtig mit solchen Äußerungen. Und überhaupt, ein Tiroler!

Freiheitsbeschränkung beginnt stets im Kleinen, und der oberflächlich freundliche "Schmäh" bringt immer etwas von der eigentlichen Geisteshaltung zutage, besonders der vielgerühmte Wiener Schmäh. 'Sage mir, worüber Du lachst, und ich sage Dir, wer Du bist.' Das wäre schon viel richtiger! So manches blöde Grinsen ist Zeichen von abgrundtiefer Intoleranz, die sich nur hinter Überheblichkeit versteckt. Weaner Schmäh, Weaner Hamur und das goldene Weanerherz - da weiß man schon Bescheid.

Die Menschen wollen einfach nicht akzeptieren, daß einer nicht genauso ist - oder ißt - wie alle anderen. Solange es allen gut geht, da sind sie nur lästig. Da ißt man noch einigermaßen sicher, aber wehe, es kommen einmal schlechtere Zeiten. Dann sind zuerst die Außenseiter dran. Der da ist keiner von uns, der frißt nur Rübenschnitzel! Und schon eins auf die Birne und fort mit ihm.

Man weiß das noch aus dem Geschichtsunterricht. Schon immer hat es geheißen: "Es geht um die Wurst!" Was war in diesem Sinne und genau genommen der Dreißigjährige Krieg anderes als eine Dauerwurst? Und erst der Hundertjährige! G. kann sich seine Kollegen vorstellen, wie sie rufen "Tod den vegetarischen Hundsföttern!" und jeden, der durch die schmale Pforte in die Stadt gelangen will, von einer Wurst abbeißen lassen. Wenn er sich ziert, dann ab mit ihm wie oben. Die jüngere Vergangenheit will er sich gar nicht vorstellen als Beispiel. Und erst die Gegenwart! Man braucht nur einen Blick in die Zeitung zu werfen.

G. hat eine heftige Bewegung gemacht. Erschrocken hält er inne und stopft sich den pelzigen Schwanz, der ihm immer häufiger auskommt, wieder hinten in den Hosenbund. Nach einem argwöhnischen Rundblick lehnt er sich am Sessel zurück, schließt die Augen und freut sich auf das nachmittägliche Wiederkäuen.