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DER TIERGÄRTNER

Wenn ich Ihnen bekannt vorkomme, so wahrscheinlich deshalb, weil Sie mich tatsächlich schon das eine oder andere Mal gesehen haben. Ich kann Sie natürlich auch an jemanden anderen erinnern, an jemanden, den Sie kennen.

Eine öffentliche Funktion? Darüber läßt sich natürlich diskutieren - ich sage absichtlich "diskutieren" und nicht "streiten", weil streiten kann man ja bekanntlich über alles, auch über gänzlich Indiskutables - ja, es läßt sich darüber diskutieren, ob ich vor meiner Pensionierung im vergangenen Herbst eine öffentliche Funktion ausgeübt bzw. ein öffentliches Amt bekleidet habe, oder doch nicht.

Ganz nebenbei - ich übe diese meine Funktion - ich neige eher dazu, sie als öffentlich zu bezeichnen - auch nach meiner Pensionierung weiterhin aus, weil sich noch kein geeigneter Nachfolger für mich gefunden hat. Freilich hat es eine Reihe von Bewerbern gegeben, aber Sie wissen ja, die Qualifikation heutzutage...!

Ich habe seit meiner Heimkehr aus Rußland - Sie sehen an der Art, wie ich mein Bein bewege, daß ich nicht ganz vollständig heimgekehrt bin, halt gerade so vollständig, wie es mir zum damaligen Zeitpunkt möglich gewesen ist, ein kleines Stückerl von mir habe ich leider in Rußland zurücklassen müssen - ich habe also seit dem Herbst des Jahres 1947 gewissermaßen das Kommando am Adolfstor des Lainzer Tiergartens übernommen, wie man so schön sagt.

Ich muß dazu bemerken, daß ich damals keine große Auswahl an Arbeitsplätzen gehabt habe, weil ich für die Übernahme einer Tabak-Trafik doch etwas zu unversehrt, oder besser gesagt, zu wenig versehrt aus Rußland zurückgekommen bin. Ein bisserl weiter oben hätten sie mich treffen müssen, dann hätte man reden können über eine Tabak-Trafik, das hat damals der Referent im Ministerium gesagt. Aber vielleicht war es ohnehin besser so.

Natürlich habe ich mich damals nicht gerade um das Adolfstor gerissen, aber die anderen Tore des Lainzer Tiergartens waren bereits vergeben, es war ja immerhin schon der Herbst 1947 und die ersten Versehrten haben sich ja sofort nach Kriegsende um entsprechende Versehrtenstellen beworben. Das Adolfstor also ist als einziges Tor noch zu haben gewesen.

Zum einen gehört das Adolfstor bestimmt nicht zu den attraktivsten Toren des Lainzer Tiergartens - wenn Sie es beispielsweise mit dem Lainzer Tor oder dem Nicolaitor vergleichen wollen, das ist ja doch ein ganz anderes Prestige! Zum anderen war es damals nicht sehr zu verwundern, daß keiner der zahlreichen ehemaligen Adolfs-Toren große Lust gehabt hat, noch irgendetwas im Auftrag oder auch nur im Namen eines Adolfs zu tun. Gar nicht erst zu reden von den Anderen, welche die letzten Jahre sowieso schon gegen ihren Willen in Adolfs Diensten verbracht hatten.

Nach dem Krieg waren sich natürlich wieder alle einig, zumindest in bezug auf den Adolf. Sie werden es für übertrieben halten, aber ich kann Ihnen verraten, daß ich noch Mitte der Fünfzigerjahre, zehn(!) Jahre nach dem Krieg bei Erwähnung meines Arbeitsplatzes von den Umstehenden scheel bis drohend angesehen worden bin. Einmal bin ich sogar angepöbelt worden. Die Schulkinder haben sich gescheut, den Namen des Tores laut zu lesen, wenn sie an den Wandertagen von ihrer Frau Lehrerin dazu aufgefordert worden sind: "Ich weiß nicht, ob der Name von dem Tor noch stimmt, ob dort der richtige Name steht!"

Einmal allerdings hat mir ein Mann die Hand geschüttelt, bevor ich verstanden hatte, warum: Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Arbeitsplatz, hat er gesagt. Es hat halt solche gegeben und solche. Leicht war es jedenfalls nicht. Die Menschen freilich habe ich kennengelernt in den über einundvierzig Jahren, die ich auf dem Bankerl hinter dem Tor zugebracht habe: Bei Regen und bei zu starker Sonne im Häuschen, ansonsten davor. Vom 21. März bis zum 31. Oktober, von 8 bis 20 Uhr, wenigstens in der Zeit, wo die Tage am längsten sind; im Frühjahr und im Herbst nur bis 17 Uhr dreissig.

Die Menschen habe ich kennengelernt, und die Tiere auch. Soll ich Ihnen den Unterschied erklären oder wollen Sie sich selbst ein Urteil bilden? Ich habe hier gerade einen vielsagenden Zeitungsausschnitt von der Vorwoche bei der Hand (ich sammle solche Artikel, müssen Sie wissen):

Ein Wildschwein (das Geschlecht ist in dem Artikel zunächst nicht genannt) wird in einem Bache schwimmend angetroffen, es nimmt offensichtlich gerade ein Bad. Unverständige Spaziergänger - sentimentale Tierschützer oder einfache Wichtigtuer - alarmieren die Feuerwehr, und diese, weil es sonst gerade nichts zu tun gibt - es brennt nirgends, kein Katzerl sitzt auf einem Baum und miaut, weil es nichtmehr hinunter kann, keine Wohnungstüre gilt es aufzubrechen, nicht einmal die Hauseinfahrt eines Politikers ist irgendwo verstellt - die Feuerwehr also rückt aus mit der Magirusleiter und einem Plastikboot um das arme Wildschwein zu retten. Und jetzt lese ich wörtlich vor aus der Zeitung:

"Das schwimmende Wildschwein attackiert mehrmals vehement das Boot seiner Retter. Dann gewinnt es das Ufer und versucht, sich quer durch seine Jäger zum Waldrand durchzuschlagen." Bemerken Sie, wie schnell aus den Rettern Jäger werden, wenn sich das arme Schweinderl nicht retten läßt, die grausliche Sau? Weiter: "Die 53-jährige Hausfrau Kathrin D. wird von der Bestie (merken Sie etwas?) mit den Hauern am Bein verletzt und umgeworfen (was hat die dort zu suchen gehabt, frag' ich mich!) Dann durchbricht das Wildschwein zwei Drahtverhaue und durchschlägt einen Bretterzaun, bevor es ihm gelingt, das Weite zu suchen."

Das Ende ist rasch erzählt: Irgendwie hat das arme Tier (es war ein Keiler) dann doch den Sinn für die Realität verloren und auf der Autobahn einen LKW angegriffen. Man kann sich vorstellen, wie das ausgegangen ist: Nicht so, wie man hoffen würde. Wäre ich dabeigewesen, ich hätte umsonst die Daumen gehalten! Unvorstellbar für mich ist jedoch die Tat jenes Gendarmen, welcher noch auf das hingestreckte Tier schießen mußte, anstatt es respektvoll in seinem Todeskampf alleine zu lassen.

Na, wo hab' ich denn meine Papiertaschentücher. Also, ich frage Sie, wann Sie zuletzt von einem vergleichbaren menschlichen Charakter gehört haben: Mutig und konsequent wie ein Kreuzritter oder ein Samurai. Früher, als die Jagd noch ein relativ (ich sage relativ!) fairer Kampf zwischen Jägern und Wild gewesen ist, da war das Erlegen einer Wildsau der höchste Triumph, den ein Jäger in unseren Breiten auskosten konnte (und den er oft genug auch teuer zu bezahlen hatte). Vielleicht kennen Sie das von alten Stichen, wie das Wildschwein die Hunde (man hört sie direkt winseln!) zur Seite rempelt: "Weg da mit Euch G'frastern, das mach' ich mir mit Eurem Chef persönlich aus!"

Als "wehrhaft" bezeichnet der Waidmann anerkennend das Schwarzwild. Diese Anerkennung könnte er sich ruhig sparen! "Wild" ist überdies ein Wort, das ich im Zusammenhang mit den Schweinen gar nicht gerne höre. An manchen Sonntagen, wenn die Ausflügler mit ihren Transistorradios durch den Wald ziehen und dabei Plastiksackerln und Bierdosen verstreuen, da frage ich mich dann, wer hier wohl die Wilden sind. Nochmals: Wo sind die Männer geblieben, die sich charakterlich heute noch mit einem Wildschwein messen könnten!

Dabei kann der Mensch vom Tier viel Gutes lernen, wobei ich hauptsächlich "Schwein" meine, wenn ich "Tier" sage. Die Beschäftigung mit dem Tier vermittelt Herzensbildung, die gemeinsame Beschäftigung mit dem Tier verbindet. Ist es denn nicht umgekehrt die schärfste Ablehnung, wenn man jemanden zurechtweist: "Wir haben nicht gemeinsam die Schweine gehütet!"

Haben Sie übrigens vor Jahren im Fernsehen den Bericht eines (damals noch ost-) deutschen Forschers gesehen, dem es gelungen war, das Vertrauen der Wildschweine zu gewinnen? Das war halt noch ein Fernsehprogramm damals!

Jedenfalls: Nach mehreren Monaten des Umwerbens seitens des Forschers erlauben ihm die Tiere, sich zu ihnen in den Morast zu legen. Während dann die Wildschweine beginnen, den Forscher mit ihren Rüsseln zu putzen, wie sie es sonst untereinander tun (den Forscher haben sie natürlich dabei eher schmutzig gemacht, nach menschlichen Begriffen) geht der Film in der Kamera des Forschers angeblich zu Ende. Ich persönlich bin ja der Meinung, daß es dem Mann peinlich gewesen ist, den Film über seine Intimitäten mit den Wildschweinen herauszurücken, und er ihn daher ab dem gewissen Zeitpunkt ganz einfach unterschlagen hat. Ich halte das auch für sein gutes Recht. Es muß auch für Forscher eine Privatsphäre geben, irgendwann einmal ist Schluß, wo kämen wir da hin!

Ich muß zugeben, daß es mir in den über vierzig Jahren meines Dienstes im Lainzer Tiergarten nicht gelungen ist, ein derartiges Vertrauensverhältnis zu den Tieren aufzubauen, obwohl ich sie auch während der Wintermonate oftmals, ja beinahe täglich bei den Fenstern in der Mauer besuche. Wenn ich so an der Mauer stehe und durch die Gitterstäbe auf die kinderreichen Familien mit den vielen gestreiften Ferkeln auf der anderen Seite blicke - also richtig ausgesperrt kommt man sich da vor, ausgesperrt und ausgeschlossen. Und die helle Freude in den Augen der Frischlinge, wenn ich ihnen durch das Gitter ein paar Brotscherzeln zuwerfe! Na, ja.

Unsereinem konnte man ja früher auch leichter eine Freude bereiten als der heutigen Jugend. Überhaupt hat sich viel geändert, nicht nur, daß sich die Stadtbahn (wo sind wir denn eigentlich schon? Schönbrunn!) jetzt U-Bahn, U4 nennt. Früher, da haben die Leute aus dem Tiergarten ihr Brennholz geholt, sosehr hat man gar nicht aufpassen können, was die alles weggetragen haben! Da hat es im Wald ausgeschaut, als hätte jemand mit dem Besen aufgekehrt. Schwammerln haben sie auch gesucht und damals sogar noch gefunden. Aus den Dirndeln hat man Marmelade gemacht, auch aus den Himbeeren und den Brombeeren. Gewildert worden ist auch, aber hauptsächlich von den Alliierten, den Besatzungssoldaten. Das hat nach 1956 ziemlich aufgehört.

Wie es den Leuten immer besser gegangen ist, haben sie sich nichts mehr aus dem Tiergarten geholt, sondern im Gegenteil damit angefangen, ihren Überfluß beziehungsweise ihre Abfälle herzutragen oder über die Mauer zu werfen, von alten Eiskästen bis zu abgefahrenen Autoreifen. Den Tieren allerdings bringen sie auch einiges mit, und zwar nicht nur altes Brot, was glauben Sie! Sie würden sich wundern, was die Leute alles wegwerfen: Komplette Menüs werden da verschämt in die Futterecke geleert. Na, ja, haben wenigstens die Tiere etwas davon. Ist ja selten etwas Schlechtes, wo nicht auch etwas Gutes dabei ist.

Ha! Ober St. Veit! Hat mich sehr gefreut, auf Wiedersehen, der Herr! Ich muß zu meinen Schweindeln.