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DER PROKURIST

"Wenn der Alte nicht gleich in der Früh' einen Architekten zu fressen kriegt, dann hat er nicht gefrühstückt!" sagen die ihm unterstellten Mitarbeiter: Ingenieure und Baumeister, technische Zeichner und Kalkulanten. Auch einige Architekten sind darunter. "Und ohne Frühstück ist er selber ungenießbar."

Sie halten dieses Diätproblem auch für den Grund, aus welchem er noch nicht in Pension gegangen ist, obwohl er das entsprechende Alter bereits erreicht und überschritten hat. "Am Schilling wird's ja wohl nicht liegen!"

Gerne vergessen sie in diesem Zusammenhang, daß der "Alte" im Laufe der Jahre für den Betrieb ein Vielfaches von dem erwirtschaftet hat, was alle anderen (einschließlich des Juniorchefs) gleichzeitig verwirtschaften konnten. Man kann diesen Umstand getrost als Ursache für die gesunde wirtschaftliche Situation des Betriebes werten. "Ein Leben am und für den Bau, ein Leben für den Betrieb", so oder ähnlich heißt es bei den Tischreden immer, wenn wieder einmal ein Gedenktag fällig ist und die Firmenleitung ein Essen spendiert.

Wer ihn kennt, der weiß, daß er Außenstehenden nur unter Zuhilfenahme von meteorologischen oder geophysikalischen Begriffen zu beschreiben ist: "Windstärke 12!" warnen die ihm Unterstellten einander, manchmal auch: "Mercalli 8", wenn einer von ihnen zum "Alten" gerufen wird. Auch der Begriff der "nach oben offenen W.-Skala" kursiert im Betrieb unter Anspielung auf seinen Familiennamen. "Der Alte ist heute in Astronautenstimmung!" sagen sie, wenn er wieder einmal gedroht hat, er würde einen von ihnen "durch Sonn' und Mond schießen".

Ganz anders spricht die oberste Etage der Firmenleitung von ihm: "12 Prozent Dividende, auch heuer wieder!" sagen sie und reiben sich die Hände. Natürlich kennen sie ihn auch "da oben", auch wenn sie selbst es etwas leichter mit ihm haben. Sie sagen: "Der W., der ist kein Mensch, der ist ein Erdbeben!" Die Dividende kommt natürlich nicht von selbst; sie hängt bestimmt auch mit seinem meteorologisch-kosmischen Temperament zusammen.

Es fängt jedoch schon damit an, daß er auf den Plänen, welche ihm die Herren Architekten ("lustige Leut'!") zum Zwecke der Bauausführung vorlegen, zuallererst das sieht, was diese Herren gar nicht eingetragen haben. "Darf ich mir das nächste Mal meine Pläne selber zeichnen, Herr Architekt?"

Als nächstes fällt sein Blick auf alle Fehler, welche offensichtlich bereits mit einem nur für ihn sichtbaren Rotstift markiert sind. "Architekt müßte man sein, dann könnte man alles!" sagt er dann. "Wenn ich wieder auf die Welt komme, dann werde ich auch einer. Stimmt's oder habe ich recht, Herr Architekt?" Wer möchte ihm auf das hinauf einen kleinen Frühstückshappen mißgönnen!

Wenn es gerade keinen Architekten zu fressen gibt, so verschmäht er auch Statiker nicht, obwohl er die ersteren, vermutlich wegen ihres zarteren Geschmackes, bevorzugt.

Statiker sind jene meist nüchternen und im allgemeinen auch vernünftigen Menschen, welche unter Zuhilfenahme und Anwendung der Regeln der Mechanik die Entwürfe der Architekten so ordnen und umformen, daß sie auch den abwärts gerichteten Verlockungen der Schwerkraft widerstehen, und daraus für Leute wie W. und seinesgleichen ausführbare Pläne erstellen.

Es gelingt ihnen dabei oft das Kunststück, Pläne als Grundlagen zu verwenden, welche erst im nachhinein von den Architekten gezeichnet werden.

Ein Architekt hingegen ist nach Aussage eines prominenten (weil verstorbenen) Vertreters dieses Standes, nämlich Adolf Loos, ein Maurer, der Latein kann. Ob dies auch stimmt, müßten die Altphilologen überprüfen. Es könnte ja auch so sein, daß sie - was nicht schwierig ist - von den Maurern für gute Lateiner und von diesen für gute Maurer gehalten werden. Loos hat allerdings auch gesagt, alle Architekten wären Verbrecher. Das ist vielleicht doch etwas zu dick aufgetragen und grenzt bereits an Nestbeschmutzung.

Architekten und Statiker (oder Bauingenieure ganz allgemein) verhalten sich zueinander oft wie feindliche Brüder oder wie ein altes Ehepaar, wo eine(r) am (an der) anderen kein gutes Haar läßt, aber alleine doch nicht ganz zurecht kommt. Es soll allerdings auch schon wahre Liebesgeschichten unter Architekten und Bauingenieuren gegeben haben.

Zurück zu W.: Es wird erzählt, daß ihm einmal ein von ihm beauftragter Statiker einen Fehler in seinen Plänen, nach welchen in der Zwischenzeit unter Einbeziehung des Fehlers bereits gebaut worden war, erst nach Einnahme von Baldriantropfen gestanden hat. Diese Geschichte entspricht insoferne nicht der Wahrheit, als es in Wirklichkeit nur Vitaminpräparate waren. "Nur keine Wellen!" hat der Prokurist damals gesagt und jeden Ersatz der Kosten für die Behebung des zu Beton gewordenen Fehlers abgelehnt. Vielleicht war er so erstaunt darüber gewesen, daß er den Fehler nicht selbst bemerkt hatte.

Heute, nach vielen gemeinsam ausgeführten Bauten, ist der betreffende Statiker ein überzeugter Fan von ihm. Trotzdem wünscht er sich jedes Jahr zu Weihnachten vergebens ein Tonband mit W.'s Kommentaren über den Architektenstand. Daß ihm der Prokurist Kaffee anbietet, empfindet er als Auszeichnung.

Sein Tagewerk beginnt der Prokurist pünktlich fünf Minuten vor sieben. Wer ihn noch in strahlender Laune antreffen will, der ist schon eine Minute vorher da: Er wartet im verborgenen, bis der Herr Prokurist sich an seinen Schreibtisch gesetzt hat und klopft dann bei ihm an. So mancher Auftrag ist zu dieser Stunde zustande gekommen: Morgenstund' hat Gold im Mund. Schon eine Viertelstunde später ist es nurmehr das Kupfer der Telefondrähte, durch welche gewöhnliches Blech geredet wird. "Da sinket ihm der Mut", wie es in Haydn's "Jahreszeiten" heißt. Kann man W. unter diesen Umständen das Schwinden seiner guten Laune verübeln?

Nicht geheuer ist W. den Polieren und Arbeitern auf der Baustelle. Argwöhnisch verfolgen sie ihn mit ihren Blicken, wenn er mit seinen feinen hellen Wildlederschuhen durch den Morast geht, ohne daß dieselben nachher auch nur die geringsten Spuren davon aufweisen. Vor hundert Jahren hätten sie sich wahrscheinlich bekreuzigt, vor 300 Jahren hätten sie ihn mit Sicherheit verbrannt. In hundert Jahren werden wir vielleicht schon alle schweben können.

Wieder festen Boden unter den Füßen, beginnt W. mit dem, was auch in hundert Jahren noch nicht alle können werden: Mit der Suche nach dem unsichtbaren Geld, welches auf der Baustelle ungenützt herumliegt, verwelkt oder sogar verdirbt.

So mancher Polier würde sich bei solcher Gelegenheit freiwillig hinter den Mond zurückziehen. "Geh' her da, Herr Polier!" heißt es dann. "Hab' ich dir das so angeschafft?" Er habe nicht, bekennt der also Angesprochene zerknirscht.

Wünschelrutengeher verachtet W. Die Reichweite seiner Nase ist zwar noch nie klinisch getestet worden, es wird jedoch von Augenzeugen (besser: Nasenzeugen) bestätigt, daß er die Lage des Grundwassers bis zu acht Metern unter der Geländeoberfläche mit einer Genauigkeit von 15cm auf oder ab (plus oder minus, sagt der Techniker) erriechen kann.

Daß W. die lokale Wetterlage zu seinen Gunsten beeinflussen kann, ist ein offenes Geheimnis. Viele verregnete Wochenenden nach strahlend schönen Arbeitstagen werden ihm zugeschrieben (einmal muß es ja auch regnen). Hinter vorgehaltener Hand ist sogar von einem besonders milden Winter die Rede, welcher ihm (in einem unter normalen winterlichen Bedingungen aussichtslosen Fall) die rechtzeitige Fertigstellung eines heiklen Bauwerkes ermöglicht und damit die Zahlung einer saftigen Pönale erspart haben soll. Vom Prokuristen selbst werden solche Gerüchte, soferne sie ihm zu Ohren gelangen, weder bestätigt noch dementiert.

Der sogenannte Erddruck, die wissenschaftlich sowohl theoretisch als auch empirisch bewiesenen Kräfte des umgebenden Erdreiches auf ein Bauwerk, kann von W. zumindest bis zur Fertigstellung seiner Arbeiten aufgehoben werden. Bereits die zweite Generation von Statikern bemüht sich um die Ergründung dieses Geheimnisses. "Der Erddruck, ja, rechnerisch!" ist W.'s verächtliche Anmerkung zu ihrem Bemühen.

Eine ähnliche Abneigung wie gegen den Erddruck hegt er auch gegen zu tiefe Fundamente, wenn sie nach seiner Auffassung "hinuntergehn bis zu die klan' Leut'."

Ihm einen gewissen, auch nur zeitlich begrenzten Einfluß auf die Schwerkraft nachzusagen, wäre jedoch mit Sicherheit Aberglaube und Verleumdung.

Auf der Baustelle ist der Prokurist einmal von einem Bagger angefahren worden. Eher unabsichtlich, wenn man wieder einmal den Berichten der Augenzeugen Glauben schenken will. Die Schäden (am Bagger) sind angeblich gering und ohne Verwendung von Ersatzteilen behebbar gewesen. Die Reinigung von W.'s feinem hellen Wildledermantel soll jedenfalls mehr gekostet haben.

Auch sonst ist er (der Prokurist) ziemlich unverwüstlich. Im siebzigsten Lebensjahr stehend, wurde er einmal nach seinen Plänen nach der Pensionierung gefragt. "In den nächsten zehn Jahren wird noch viel gebaut werden," war seine Antwort. "Danach werden wir weiter sehen!"

Es wäre ihm zu wünschen. Der Firmenleitung ebenfalls. Leute, die sich Chancen auf seinen Posten ausrechnen, hätten dann sogar noch etwas Zeit, um ein wenig dazuzulernen.

Einmal im Ruhestand, könnte W. das Werk des Vitruvius, welcher vor zweitausend Jahren in zehn Bänden Ewiggültiges über die Architektur geschrieben hat, durch ein kleines Bändchen über die Architekten ergänzen.

Anmerkung der Schriftführung: Der vorliegende Bericht stammt zwar von keinem Architekten, dafür aber von einem Bauingenieur.