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DER LESER

Alfredo B. - der Vorname ist eine kleine Huldigung (auf seinem Rücken!) seiner Eltern an jenes Land, wo nicht nur die Zitronen blühen, sondern wo auch vor vielen Jahren in einer milden Nacht gegen Ende der Vorsaison in der Nähe von Rimini der biologische Grundstein zu Alfredos künftiger Existenz gelegt wurde - Alfredo also ist von Beruf Leser, und zwar Leserbriefe-Leser. B. ist jener Bedauernswerte, welcher sich alle Leserbriefe an sein Blatt (bzw. an das Blatt jenes Gebers, welcher für ihn der Dienst-, für das Blatt aber der Herausgeber ist) zu Gemüte führen muß.

B. verdankt seinen Arbeitsplatz einer Rationalisierungsmaßnahme. Im Gegensatz zu vielen unglücklichen Arbeitnehmern, welche ebensolchen Maßnahmen zum Opfer fallen in dem Sinne, daß ihre Arbeitsplätze und somit zu einem gewissen Teil auch sie selbst hinwegrationalisiert werden, wie man so schön sagt, ist B. her- oder hinzurationalisiert worden.

Schutzlos allen schreibwütigen Lesern ausgeliefert, hat er sich allerdings oft genug, besonders anfangs und bevor ihm der Herausgeber einen Textverarbeitungscomputer auf den Schreibtisch gestellt hatte, ebenfalls als Opfer dieser Rationalisierungsmaßnahme beklagt, wenn auch aus anderem Grunde als die zuvor erwähnten Unglücklichen.

Seine Anstellung verdankt Alfredo einer Blitzentscheidung. Eines Abends nämlich war der Heraus- und spätere Dienstgeber Alfredos in das Zimmer der diensthabenden Redakteure getreten und hatte sie vorgefunden, wie sie einander gegenseitig die jeweils an sie gerichteten Leserbriefe vorlasen: Brüllend vor Lachen, mit hochrotem Kopf, vermutlich auch die Vorderseite der Oberschenkel gerötet unter dem Hosenstoff vom vielen Schenkelklatschen, die Bierdose in der einen, die Zigarette in der anderen Hand. Ein ganzer Haufen bereits geleerter Bierdosen rund um den Papierkorb, welcher schon überging von den bereits verlesenen Leserbriefen, die Aschenbecher begraben unter Stummeln und Asche. Ein Alptraum für jeden Unternehmer.

Dem Dienstgeber, welcher eigentlich das Zimmer betreten hatte, um den Dienstnehmern in seiner Funktion als Chef und Herausgeber wegen der geringen Qualität ihrer Recherchen (von den Redakteuren stets mit mangelnder Zeit begründet) in's Gewissen zu reden und ein wenig die Leviten zu lesen, war der Kragen geplatzt: Er hatte ein ordentliches Donnerwetter inszeniert und den Herren Redakteuren (zur Ehre der dort beschäftigten Damen muß gesagt werden, daß keine einzige von ihnen an der außer- und unordentlichen Redaktionssitzung teilgenommen hatte) mit sofortiger Wirkung das Lesen der an sie gerichteten Leserbriefe untersagt. Die Einlaufstelle (woher auch immer diese Bezeichnung kommen mag) war angewiesen worden, alle derartigen Schriftstücke direkt an den Herausgeber weiterzuleiten.

Die ad hoc beschlossene Rationalisierungsmaßnahme (und natürlich auch das vorangegangene Donnerwetter) hatte tatsächlich zu einer sofortigen und spürbaren Verbesserung der Recherchen seitens der Redakteure geführt. Womit der Herausgeber freilich nicht gerechnet hatte, das war die Flut von Leserbriefen, welche sich nun täglich über seinen Schreibtisch ergoß: Am dritten Tage bereits war er reif zur Kapitulation. Das Arbeitsamt hat ihm auf seinen Hilferuf hin einen arbeitslosen Germanisten (Nebenfach Mathematik, auch wenn dies Kenner unserer Studienpläne in Abrede stellen werden) vermittelt: Alfredo B.

Natürlich hatte Alfredo keine einschlägigen Erfahrungen besessen. Im Gegenteil: Die von ihm bis zum Beginn seiner Arbeitslosigkeit ausgeübte Tätigkeit, welche vornehmlich im Korrigieren des Satzbaues und der orthographischen Fehler in den ihm zur Lektüre vorgelegten, zumeist von seinen Schülern verfaßten Schriftstücken bestanden hatte, war zunächst angesichts der mangelhaften Qualität vieler Leserbriefe ein echtes Handicap gewesen.

Viel zu wenig hatte er sich anfangs auf die eigentliche Tätigkeit konzentrieren können: Alle Briefe waren zunächst zu lesen, gegebenenfalls zur Wiedergabe aufzubereiten gewesen oder stichwortartig dem zuständigen Redakteur zur Beantwortung zu übermitteln. Die Fortführung von B.'s Tätigkeit als Deutschprofessor hatte fast die ganze Arbeitszeit verschlungen.

Interessanterweise gleicht die Schreibweise vieler Briefe der Redeweise mancher Politiker, während die Rechtschreibung deren Aussprache ebenbürtig ist: "Ich kann diese Massname der Regierung nur als Skandall bezeichnen". Kann man so etwas beantworten, ohne den Satz vorher richtigzustellen?

Die ersten Monate war B. daher kein geneigter, sondern vielmehr ein gramgebeugter Leser gewesen, bevor er entsprechend abgehärtet war. Dann allerdings war ihm seine Tätigkeit zusehends leichter von der Hand gegangen, und er hatte sich zur Erleichterung seiner Arbeit angewöhnt, die Schreiber einzelnen Kategorien zuzuordnen, die sich oftmals auch überschneiden. Ein interessantes Beispiel aus der Mengenlehre, bei dem ihm sein Nebenfach als Mathematiker gut zu statten kam.

Die meisten der schreibenden Leser gehören zur Gruppe - oder Teilmenge - der "sonst nicht Eigentlichen", deren Art es sonst eigentlich nicht ist, Leserbriefe zu schreiben. Manche Leser, die jeden Brief so beginnen, gehören auch zur Teilmenge der Wiederholungstäter, welche nicht nur zu jedem Thema Stellung nehmen müssen, sondern sich sogar auf ihre vorangegangenen Leserbriefe beziehen, oftmals hartnäckig deren Beantwortung oder Veröffentlichung urgieren, sich über die gekürzte (verstümmelte!) Wiedergabe ihrer Briefe beschweren. In beiden Gruppen finden sich auch die "wahrscheinlichen bzw. bestimmten Namensschreiber", welche "wahrscheinlich (bestimmt) im Namen vieler Mitbürger" ihre Meinung äußern und damit eine eigene Teilmenge bilden.

Unter allen Lesern, welche sich brieflich an die Redaktion wenden, findet sich ein erstaunlich hoher Anteil an solchen, die das (angeblich) zum ersten Mal unternehmen und dies auch noch ausdrücklich unterstreichen.

Alfredos graphische Darstellungen des Problems aus der Mengenlehre haben einmal das Interesse des Sportredakteurs geweckt, der die ineinander verschlungenen Kreise für ein neues Freizeitgerät gehalten hat.

Natürlich ist jede Teilmenge unterschiedlich zu behandeln, und die Beantwortung des Briefes eines sonst nicht eigentlichen, bestimmten Namensschreibers als Wiederholungstäter ist bereits ein kompliziertes Unterfangen. Freilich kann nicht jeder Brief weitergeleitet oder veröffentlicht werden, daher hat Alfredo eine Statistik aufgestellt, welche die Grundlage für seinen Beantwortungs- und Veröffentlichungsschlüssel darstellt.

Noch später hatte Alfredo damit begonnen, für die einzelnen Redakteure Karteikarten anzulegen. Als Service für seine Kollegen sozusagen. Wurde wieder einmal einer von ihnen z. B. als "A.-Loch" bezeichnet, so wurde in der betreffenden Rubrik der Karte (von B. aus diesem Grunde auch Lochkarte genannt) ein Strichlein hinzugefügt. Manche Rubriken bestimmter Redakteure erstreckten sich trotz sparsamer Nutzung der Karten bereits auf die Rückseite derselben. B. leugnet nicht die hämische Freude, welche ihm die Führung dieser Lochkarten bereitet und versäumt nicht, die Redakteure über deren letzten Stand zu informieren.

Eine grundlegende und für ihn erfreuliche Änderung in Alfredos Tätigkeit hat sich durch den zuvor erwähnten Textverarbeitungscomputer ergeben, den ihm sein Chef - zur Rationalisierung der Rationalisierungsmaßnahme - auf den Tisch gestellt hat. Das war vor etwa einem Dreivierteljahr. In der Zwischenzeit hat Alfredo für beinahe jedes Thema (und es werden laufend mehr!) den passenden Leserbrief "im Kasten". Alfredo könnte eigentlich auf Zuschriften seitens der Leserschaft verzichten und nur mehr seine vorgefertigten, bereits mit Antwort versehenen Leserbriefe aus dem Computer holen.

Aus Gründen der Weiterbildung (man muß sich immer auf dem letzten Stand halten!), aber auch aus wissenschaftlichem Interesse, gepaart mit reiner Neugierde liest er dennoch manche Briefe, und zwar alle jene, welche von einer Sondermarke geziert werden, obwohl sich mit ziemlicher Deutlichkeit erwiesen hat, daß die "sonst nicht eigentlichen" Briefschreiber häufiger zur Sondermarke greifen als andere. Es mag dies darin begründet sein, daß ein hoher Prozentsatz (eine größere Teilmenge) von ihnen tatsächlich nicht gewohnheitsmäßig an Redaktionen schreibt und dem Brief - aus Schüchternheit natürlich - dadurch eine gewisse gesteigerte Gefälligkeit verleihen will.

So beginnt Alfredo jeden Tag mit der Vernichtung der eingelangten Briefe ohne Sondermarke. Dann schreitet er zur Lektüre der Zeitung von vorgestern, um sich einen Überblick über die Themen zu verschaffen, welche er in seinen Leserbriefen zu behandeln hat und liest zur Auflockerung noch die Briefe mit Sondermarke. Danach beginnt er mit dem Zusammenstellen geeigneter Leserbriefe samt Antwort, sechzig Prozent Kritik, vierzig Prozent Zustimmung. Name und Adresse seiner Briefe entnimmt er dem Telefonbuch. Erst einmal hat sich eine Dame (Dr. Elfriede Kastranek) bei ihm (mit Sondermarke!) beschwert, daß er in ihrer Leserzuschrift die falsche Hausnummer angegeben hatte: Schultheißgasse 34 statt 43. Ein böhmischer Fehler! Peinlich für einen Mathematiker, wenn auch nur im Nebenfach ein solcher. Mit dem ihr zugeschriebenen Text war Frau Dr. Kastranek offensichtlich einverstanden gewesen.

Zuletzt ergänzt Alfredo seine Briefsammlung, wenn in der vorgestrigen Zeitung ein von ihm noch nicht verarbeitetes Thema angeschnitten wurde oder ein Sondermarkenbrief eine besonders originelle Stellungnahme enthält.

Natürlich ist Alfredo auch bei der Sammlung der schmückenden Beiwörter, welche seinen Redaktionskollegen gewidmet werden, vom alten Lochkartensystem abgegangen und kann nun seine Statistik praktisch ohne Platzprobleme in seinem Computer speichern.

Am Monatsende erhält jeder Kollege ein gedrucktes Blatt mit dem aktuellen Stand aller ihm zugedachten Schimpfwörter (die Alfredo nun, da er die meisten Briefe gar nicht liest, von einem kleinen selbstgeschriebenen Computerprogramm mit einem Zufallsgenerator verteilen läßt) sowie den Veränderungen im vergangenen Monat. Manchmal ergänzt B. den Vorrat der zur Verfügung stehenden Schmähungen durch Ausdrücke, die er in der Straßenbahn gehört hat. Hin und wieder verändert er in seinem Programm auch die Beliebtheitskoeffizienten, welche Häufigkeit und Kaliber der zugewiesenen Beschimpfungen individuell regeln.

Aktuelle Meldung: Letzten Donnerstag ist Alfredo von seinem Chef gefeuert worden. Die Putzfrau hatte ihm die Zeitung von vorgestern weggeworfen und er hat es erst nach der Vernichtung der echten Leserbriefe bemerkt, dadurch ist alles aufgeflogen. Alfredo geht jetzt nach Graz. Seine Habilitationsschrift über Angewandte Epistologie ist dort mit Begeisterung angenommen worden.