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DER INTERVALLER

Nahezu unbekannt und daher von der Öffentlichkeit weitestgehend unbedankt ist der "Verein zur Mehrung des Guten und Schönen", der trotz seiner gemeinnützigen Zielsetzung nicht unbedingt als karitativ im herkömmlichen Sinn bezeichnet werden kann; es ist vielmehr diese Vereinigung hochsensibler Idealisten darauf bedacht, über den Weg von mehr Ästhetik auch mehr Freude in unser aller Alltag zu bringen.

Um die Empfindsamkeit mancher Vereinsmitglieder zu illustrieren, sei erzählt, warum einmal eine ansonsten äußerst tüchtige Sekretärin auf dem unter Wahrung der gesetzlichen Auflagen schnellstmöglichen Wege von ihrem Arbeitsplatz entfernt worden ist: Mitglieder hatten sich darüber beschwert, daß sich besagte Sekretärin mit "Vauzet Emde GuSch, Schwingenschlögl" am Telephon meldete. Wäre ihr Familienname für eine schöngeistige Vereinigung gerade noch tolerierbar (und dies umsomehr, als eine Verbesserung per Eheschließung immerhin vorstellbar) gewesen, so verriet die von ihr vorgenommene abkürzende Verstümmelung des Vereinsnamens eine untragbare sprachliche Unempfindsamkeit.

Eine der bemerkenswertesten Taten des Vereines, welcher freilich seine Blütezeit hinter sich hat und heute - das berühmte Österreichische Schicksal - von der Glorie vergangener Tage zehrt, bestand seinerzeit in der Bestellung (und vorhergehenden Ausbildung) eines hauptberuflichen Intervallers. Die Tätigkeit eines Intervallers, den man freilich vergebens im Berufs- und Branchenverzeichnis des amtlichen Telephonverzeichnisses sucht, besteht im korrekten Einstellen und periodischen Überprüfen amtlich zu- und auf die Ohren des Bürgers losgelassener Einsatzfahrzeugs-Folgeton-Hörner, welche ohne entsprechende musikalische Überprüfung der ihnen zugewiesenen Intervalle spürbar zur akustischen Umweltverschmutzung unserer Städte beitragen können.

Kaspar R., anfangs der Sechzigerjahre durch den Einzug der Elektronik in den Folgetonhornbau überflüssig gemacht und nach jahrelangem Verzehr des Gnadenbrotes seit geraumer Zeit in Pension, hat das Einstellen von Intervallen, welche auch den anspruchsvollsten Ohren genügen, in Italien erlernt: In Italien, wo nicht nur seit jeher die besten Streich- und Zupfinstrumente gebaut werden, sondern auch hervorragende Folgetonhörner, wie zum Beispiel jene mit dem klingenden Namen Marelli, die Stradivari unter den Signalhörnern; in Italien, wo eine Quart nicht automatisch mit der Feuerwehr, sondern zuallererst mit dem Triumphmarsch aus der Aida assoziiert wird, und wo die Ambulanza sich den Weg mit einer Sext freihupt: Sext, welche sich mühelos aus dem Satz "Se l'amor per la patria" aus der Arie "Suo padre etc." des Amonasro aus dem zweiten Akt, zweite Szene der gleichen Oper (Aida, wie oben) ergibt *). In Italien schließlich, wo der denkbar schlimmste (eigentlich wirklich grausige) Gesang der Gläubigen in der Kirche die beste Möglichkeit zur Überprüfung der eigenen Sattelfestigkeit in extremen harmonischen Situationen bietet.

Wie sich leicht denken läßt, hatte Kaspar R. nach seiner Rückkehr aus Italien keine lückenlose Dokumentation seiner Ausbildung vorlegen können. Er selbst behauptete scherzhaft, in den sechs Monaten seiner Ausbildungszeit in Italien das Travertinum in Rom (welches in etwa dem berühmten Wiener Kalksteineum entspricht) absolviert zu haben; es gilt als gesichert, daß er zwei Sommermonate in der Arena von Verona verbracht hat.

 

*) Ergänzende Anmerkung: Interessenten an einer verminderten Sext können diese ebenfalls der Aida entnehmen, und zwar der Arie der Amneris aus dem 1. Akt, 1. Szene "Ritorna vincitor!" ("Als Sieger kehre heim").

 

Seine Fähigkeiten hinsichtlich der Festlegung von Intervallen waren jedenfalls von der eigens aus Mitgliedern des Vereines zusammengestellten Kommission, welche Kaspar schon vor seiner Abreise auf seine Ausbildungswürdigkeit untersucht hatte, einstimmig als "hervorragend" bezeichnet worden.

Eine eventuell in Italien erworbene Rhythmusschwäche (Kaspar hatte sich angewöhnt, gewisse Töne zu lange auszuhalten, wodurch sich - um ein Signal mit besonders hohem Bekanntheitsgrad als Beispiel zu wählen - ein allzu theatralisches "Traraaa!" ergab) hatte sich bald wieder gelegt.

Spätestens seit Christian Doppler, dem bedeutenden Österreichischen Physiker, ist der nach ihm benannte Effekt bekannt. Nein, nicht die großen Weinflaschen mit 2l Inhalt sind nach ihm benannt. Vielmehr verändert der Ton einer gegenüber dem Ohr in Bewegung befindlichen Schallquelle seine Frequenz - er wird höher bei Annäherung, tiefer bei Entfernung. So variieren z. B. wirklich kompetente Leser von Comic-Strips automatisch in Gedanken die Tonhöhe, wenn mit vroooooooooom ein Fahrzeug die Seite überquert.

Ähnliches widerfährt auch den Lichtwellen. So verraten z. B. sich umeinander drehende Doppelsterne - beinahe wäre der nomen hier ein Omen - diese ihre Besonderheit durch den Dopplereffekt.

Es ist wenigstens theoretisch denkbar, daß Marsch- und Trachtenkapellen einen winzigen Teil ihres schlechten Rufes (und zwar nicht was die lockere Moral, sondern was das Richtig- bzw. Falschspielen angeht) dem Dopplereffekt verdanken: Der Hörer, welcher die Kapelle an sich vorbeiziehen läßt und dann beschließt, ihr zu folgen, hört theoretisch mindestens drei verschiedene Tonlagen (und Geschwindigkeiten). Wesentlich mehr mag im Falle der Trachtenkapelle allerdings der Effekt der ausgeschenkten Doppler zur Geltung kommen, nicht mitgerechnet die obligaten Stamperln, welche die Marketenderin aus ihrem Fäßchen vollrinnen läßt.

Zurück zu den Hörnern: Es ist nun eben eine Eigenheit der Folgetonhörner, daß sie stets auf Fahrzeugen montiert sind, welche naturgemäß zumeist in Bewegung sind, wenn das Horn betätigt wird. Dadurch verändert sich zwar für den nicht gleichförmig mitbewegten Hörer die absolute Höhe der Töne, Intervalle hingegen bleiben glücklicherweise bestehen, solange die Relativbewegung gleichbleibt. In ohnmächtiger Resignation allerdings hört der Intervaller seine verunstaltete, zerquetschte Quart bei nahendem "Tra" und sich entfernendem "Raa" (siehe obigen Hinweis auf den Bekanntheitsgrad des Signals). Außerdem wird z. B. die Festlegung bestimmter Tonfrequenzen für einzelne Fahrzeuge zum Zwecke ihrer Identifizierung vereitelt.

Auch eine Abstimmung der einzelnen Tatüs, Tütas und Traras verschiedener Einsatzfahrzeuge wie z. B. Feuerwehr, Polizei und Rettung zur Erzielung beruhigender Harmonien in der Art einer Klangwolke am Unglücksort, nicht unähnlich dem Gesang gewisser Kreisel, welche heutzutage als Kinderspielzeug aus der Mode gekommen sind, wird angesichts der aus verschiedenen Richtungen und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten herannahenden Fahrzeuge problematisch. Absolute Tonhöhen lassen sich eben nur dann am Horn feststellen, wenn sich das lauschende Ohr gegenüber der Tonquelle in Ruhe befindet bzw. umgekehrt, was auf das selbe hinausläuft; und wenn das Fahrzeug angekommen ist, dann stellt es meistens ohnehin sein Horn ab.

Natürlich ist dieser Effekt seit jeher ein Dorn in Kaspar R.'s Ohren gewesen; viele Jahre hindurch hat er nach einer Methode gesucht, mit Hilfe derer der Dopplereffekt zu umgehen wäre, und dieser Suche die Blüte seiner Ohren geopfert. Spät erst hat er eingesehen, daß dies hieße, die Physik überlisten zu wollen, und das ist bisher noch keinem gelungen.

So hat sich R. in den letzten Jahren vor der (an sich zu begrüßenden) Entwicklung des volltransistorisierten Folgetonhornes damit begnügt, die Hörner auf dem Prüfstand zu justieren und, nach Aufkleben der Prüfplakette mit dem Violinschlüssel, auf das jeweilige Einsatzfahrzeug zu montieren. Es war ihm gelungen, auch diese Tätigkeit, die er das Hörneraufsetzen nannte (und manchmal behauptet er, mehr Hörner aufgesetzt zu haben als Casanova und Don Giovanni zusammen), in seinen Auftrag inkludiert zu bekommen, weil nach unachtsamer Montage bisweilen Mängel bei den eingestellten Intervallen festgestellt werden konnten.

Seiner Leidenschaft für richtige Intervalle verdankt R. die Freundschaft mit einem Schlagwerker des Rundfunk-Symphonieorchesters. Die wenigen Intervalle, welche sich mit den Kesselpauken - auch wenn man drei oder vier Stück davon verwendet - erzeugen lassen, haben R. stets an seinen unerfüllten Wunschtraum, die harmonische Klangwolke aus Folgetonhörnern, erinnert.

Das Stimmen der Kesselpauken inmitten des restlichen Orchesterlärmes ist übrigens von ähnlichem Schwierigkeitsgrad wie das richtige Singen inmitten der Italienischen Gläubigen in der Kirche und wird nur von wenigen besonders Begabten, welche starke Nerven mit einem absoluten Gehör und unerschütterlichem Taktgefühl verbinden, beherrscht.

Die Freundschaft der beiden zu einem Klavierstimmer ist letztlich an dessen überheblichem Betragen zerbrochen. Der Intervaller und sein Freund, der Schlagwerker, welche dem Klavierstimmer stets mit größtem Respekt begegnet waren, haben sich dann darauf geeinigt, daß auch jener nur mit Wasser koche: Auch das Stimmen eines wohltemperierten Klavieres sei letzten Endes nur eine Frage der Übung.

Es wird nicht überraschen, daß R.'s Gehör durch die ständige Beschäftigung mit Folgetonhörnern - beruflich wie privat - ein wenig gelitten hat, und daß diese etwas einseitige Beschäftigung Ursache einer gewissen Vereinsamung ist. Auch die Freuden der Ehe sind Kaspar R. versagt geblieben. Wer hält es denn lange aus mit einem Menschen, der wie Beethoven ständig die Wohnung wechseln muß, weil sich die Nachbarn durch das vermeintliche Hupen von Einsatzfahrzeugen in seiner Wohnung bis spät in die Nacht hinein gestört fühlen?

Trotzdem ist R. jede Bitterkeit fremd. Die derzeit jüngste Generation von Folgetonhörnern - werkseitig digital eingestellt und versiegelt - genügt auch seinen verwöhnten Ohren. Häufig sitzt er daher während der schönen Jahreszeit auf einer Parkbank gegenüber dem nahen Bezirks-Stützpunkt der städtischen Feuerwehr, hält sich die Hand an's Ohr und nickt anerkennend, wenn die Einsatzfahrzeuge mit lautem Trara davonfahren. Manchmal durchwandert er auch die weiten Höfe des Allgemeinen Krankenhauses, wo er den Signalen der einfahrenden Ambulanzfahrzeuge lauscht.

Hin und wieder finden wir R. in Symphoniekonzerten, wo er sich neben seinen Freund auf einen billigen Orchestersitz direkt bei den Pauken setzt und mit Interesse das Stimmen derselben beobachtet. Dann wartet er geduldig auf ein paar Noten, welche er noch zu hören vermag.