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DER GEIGER

Was ich da spiele? Eine Geige, wie Sie sehen und wohl auch hören können. Wie bitte? Ach so. Ja, die Frühlingssonate, 2. Satz. Nein, nicht von Sarasate, auch wenn es bei mir vielleicht so klingen mag. Beethoven, Ludwig van. Nr. 9, A-Dur op. 47. Ja, Sie haben völlig recht, ich bin nicht gerade ein Meister des Geigenspieles. Sie stehen auch mit Ihrem Urteil nicht alleine da. Kaum einer, der mir ein paar Münzen in den Geigenkasten wirft und sich nicht dafür das Gefühl verschafft, ein Experte zu sein: Paganini sind Sie ja wohl keiner! Als ob ich nicht selbst wüßte, daß ich kein Teufelsgeiger, sondern viel eher ein Zum-Teufel-Geiger bin.

Zur Erklärung und auch zu meiner teilweisen Rechtfertigung kann ich anführen, daß ich mir meine bescheidenen Fertigkeiten (Sie sehen, daß ich bewußt davon Abstand nehme, mein Spiel etwa als Kunst zu bezeichnen) selbst erworben habe. Welche Mühe für mich als Lernenden, welche Plage für die Mitmenschen damit verbunden gewesen ist, können Sie sich vorstellen, wenn Sie mein jetziges Spiel anhören, welches ich selbst ja bereits als fortgeschritten empfinde. Ein schlimmer Klang ist dem Spiel des Anfängers zu eigen, selbst unter fachkundiger Anleitung: Nichts ist da zu hören vom Flug des Bogens über die Saiten, es ist die rauhe Wirklichkeit, die ans gequälte Ohr dringt: Ein Pferdeschwanz, welcher über Schafsdärme und Metalldrähte gezogen wird.

Immer wieder die Saiten auf und ab: Geh Du Alter Esel, Eine Alte Dumme Gans, wenn Sie wissen, was ich damit meine. Hätte ich mit einer hölzernen Klapper gelärmt und dabei "unrein, unrein!" gerufen: Nicht schneller hätte man Türen und Fenster zugeworfen, nicht öfter hätte man mir auch noch die Pest an den Hals gewünscht. Weit ist der Weg vom G-D-A-E zum B-A-C-H. Steh' dem Anfänger bei, Heiliger Johann Sebastian!

Mein Instrument? Das ist eine alte Wiener Geige. Nein, keine Meistergeige. Wohl meisterlicher als mein Spiel, aber dennoch eben keine Meistergeige. Sie wurde angefertigt um 1720 von einem gewissen Bartl. Nein, nicht vom Geigenbauermeister Andreas Nicolaus Bartl, welcher um die gleiche Zeit ebenfalls in Wien seine Wiener Meistergeigen baute, sondern von einem anderen Vertreter dieses Namens, nicht verwandt mit dem ersten, noch weniger identisch. Die leimverschmierten, nicht gerade mit äußerster Präzision gefertigten Instrumente dieses zweiten Bartl waren der Grund für seinen Spitznamen: Den Saubartl hat man ihn genannt, um ihn vom Andreas Nicolaus zu unterscheiden.

Woher ich das weiß? Ein Geigenbauer und Schirmmacher auf der Wieden (4. Wiener Gemeindebezirk) hat mir das erzählt, vor vielen Jahren. In der Karolinengasse hat er gewohnt, auf Nummer 12. Ein echtes Wiener Original überdies. Frantisek Suchy hat er geheißen.

Wie bitte? Nein, eine Saugeig'n ist es trotzdem nicht, das ist etwas anderes. Die Saugeig'n-Viola da porco, so würde sie der Italiener nennen, das ist eine Stange mit einer einzigen Saite darauf, manchmal nur aus Spagat. Wenn man diese streicht, so ergibt das einen ähnlichen Klang, als ob ein Schwein grunzte. Vielleicht daher der Name. Sie wird im Niederösterreichischen gespielt, im Waldviertel zum Beispiel. Auch in Oberösterreich, zum Sautanz im Sauwald, oder auch auf Hochzeiten. Da spielt sie dann der Hochzeitlader. Oft hat sie an ihrem oberen Ende noch kleine Becken, Tschinellen würde man sagen. Die scheppern, wenn man mit dem Instrument - oder Gerät, wenn Sie das lieber wollen - auf den Boden stößt.

Natürlich haben Sie noch keine gehört, wenn Sie sich nur mit Hochkultur befassen. Sie ist ein Instrument, welches nur bescheidensten Ansprüchen genügt, nichts für elitäre Festspiele oder Goldene Säle.

Jeder spielt natürlich gerne auf einem guten Instrument, denn selbst der beste Geiger kann nur hervorbringen, was in seinem Instrument steckt. Bei einer Saugeig'n können Sie bestenfalls die Sau 'raus lassen, hehe. Das Material ist schuld, sagt man im Sport, oder: Das verdanke ich dem Gerät (und dem Servicetechniker).

Trotzdem bin ich manchmal froh, daß ich keine bessere Geige habe. Warum? Schauen Sie einmal in die Baumkrone über uns, sehen Sie die vielen Vögel? Wenn Sie jetzt auch noch auf meine Geige und meinen Rock sehen, dann werden Sie mir glauben, daß diese Vögel recht gemein sein können. Richtig schikanieren können sie einen.

Warum ich dann gerade hier spiele? Herr, das ist eine lange Geschichte. Nehmen Sie mit mir Platz auf dieser Bank - wir können auch stehenbleiben, wenn Ihnen die Bank zu schmutzig ist - und hören Sie, wenn Ihnen der Sinn danach steht: Hear my sad story, wie es in dem traurigen country-song "In The Streets Of Laredo" heißt.

Nach glänzendem Abschluß meiner Studien - ich bin graduierter und promovierter Psychologe und habe meine Dissertation bei Professor Rettichbacher über Musiktherapie geschrieben - befand ich mich plötzlich und unversehens in der Situation eines Stellungssuchenden.

Ich kann Ihnen versichern, daß ein Psychologe in dieser Lage all seine Schulweisheit an sich selbst versuchen muß, um nicht an sich und der Welt zu verzweifeln. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich wie ein Aussätziger gefühlt: Kaum hatte ich bei einer Bewerbung meine absolvierte Studienrichtung genannt, als auch schon der Personalchef den Kopf einzog wie eine Schildkröte.

Ich erspare Ihnen die detaillierte Schilderung meines mühsamen Weges bis zu meiner jetzigen Stellung als WuWa des Stadtgartenamtes. Was das ist? Eine Wunderwaffe natürlich. Ich bin - und dieser Dienstposten mußte für mich als Psychologen im Dienste des Stadtgartenamtes erst geschaffen werden - pragmatisierter Parkoberoffizial mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten. Es ist allerdings ein B-Posten, für maturierte Nicht-Akademiker. Nein, den Parkunteroffizial gibt es nicht, zumindest nur als theoretische Möglichkeit.

Ich komme diesmal Ihrer Frage zuvor: Was ist die Tätigkeit eines Parkoberoffizials, werden sie wissen wollen. Wie ich schon angedeutet habe: Die letzte Wunderwaffe des Stadtgartenamtes, um den Bäumen der Ringstraße das Leben zu erleichtern und nach Möglichkeit zu verlängern. Wie schon durch die Wahl der Bezeichnung WuWa andeutet, kann natürlich auch ich keine Wunder wirken. In vielen Fällen beschränkt sich meine Tätigkeit darauf, den Bäumen ihre letzten Jahre ein wenig zu verschönern.

Als Ende der Fünfzigerjahre zum ersten Mal aus Amerika Berichte kamen über akustische Studien, welche man dort mit Pflanzen angestellt hatte (ich selbst habe in meinen Vorlesungen bereits davon gehört), war Skepsis die mildeste Form der Ablehnung, welche man diesen Berichten entgegenbrachte. Im Laufe der Zeit hat sich jedoch aus diesen bescheidenen Anfängen eine echte Wissenschaft entwickelt, welche nicht nur für jede Pflanzenart bestimmte, dem Wachstum besonders förderliche Komponisten und Musikstücke zu nennen weiß, sondern auch die zugehörige günstigste Instrumentation dazu. Richtig, die Geige ist für viele Pflanzen das bekömmlichste Instrument, besonders für Kastanienbäume.

Jahre nach den ersten Musikversuchen hat man dann damit begonnen, mit den Pflanzen zu sprechen. Ja doch, ganz richtig, ihnen bestimmte Dinge zu erzählen.

Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung versichern, daß gerade diese meine Bäume eine Menge mitbekommen von dem, was ich ihnen erzähle. Sie haben im Gegensatz zum Menschen genügend Zeit zum Zuhören, gegebenenfalls auch zum Nachdenken.

Es kommt natürlich auch vor, daß ein Baum erst am nächsten Tag versteht, was man ihm gerade erzählt. Das spielt aber für einen Baum keine Rolle und kann auch bei Menschen vorkommen.

Sie glauben mir nicht? Dann werde ich Ihnen etwas erzählen, was bis jetzt noch niemand weiß, obwohl man es schon lange vermutet hat: Die Bäume sprechen auch zu uns. "Und seine Blätter rauschten, als riefen sie mir zu..." heißt es schon vom Lindenbaum, am Brunnen vor dem Tore.

Nein, das Rauschen ist nicht die eigentliche Sprache, sondern nur eine recht sekundäre Folge davon: Die Bäume verständigen sich durch die Bewegung der Zweige und Äste, durch Heben und Senken, wie die Seeleute mit dem Semaphor. Dabei rauschen natürlich auch die Blätter. Ob ich sie verstehe? Herr, wie könnte ich Ihnen sonst darüber berichten?

Warum ich dann nicht mit ihnen spreche, sondern mich und andere mit meiner Geige abquäle? Nun, stellen Sie sich einmal vor, Sie sprechen mit einem Baum und haben ihm zum Beispiel gerade mühsam (denn er ist langsam von Begriff) die Funktion der seltsamen Kutschen (die meisten Bäume sind schon reiferen Jahrganges mit einem dementsprechenden Wortschatz) erklärt, welche seine Atemluft verderben und im Vorbeifahren seine Wurzeln mit Salzwasser bespritzen. Auf einmal kommt ein Hund und hebt sein Bein. Bäume mögen keine Hunde, am wenigsten, wenn diese ihr Bein heben. Wären ihre (der Bäume) Wurzeln so beweglich wie ihre Zweige, die Hunde würden nur mehr an den Hauseinfahrten ihr Bein heben können, oder am berühmten Eckstein, den es aber heute fast nicht mehr gibt, bestenfalls noch im Radetzkymarsch: "Wenn der Mops mit der Wurst über'n Eckstein springt..."

Unser Baum also vergißt daher sofort, worüber ich mit ihm gesprochen habe, ist nervös und gereizt und überhaupt erst nach Tagen wieder richtig guter Laune. So habe ich es mir angewöhnt, zu den Gesprächen meine Geige mitzunehmen und gegebenenfalls zu schweigen und zu geigen.

Wie der gelernte Jurist Tschaikowsky, von dem sein Onkel (ebenfalls Pjotr, aber Pjotrwitsch) gesagt hat, er habe die Jurisprudenz mit dem Dudelsack vertauscht, so vertausche ich die Eloquenz mit der Violine. Wenn Sie sich nicht an dem allzu schmeichelhaften Vergleich stoßen.

Ja, natürlich habe ich schon mehrmals bei meiner vorgesetzten Stelle eine Dienstgeige beantragt. Seit sieben Jahren, um genau zu sein, jedesmal am Tag des Baumes, um meinem Antrag ein größeres moralisches Gewicht zu verleihen. Vergebens. Was die Leute bei der Materialbeschaffung nicht im Computer haben, das kann man auch nicht bestellen. Bei uns im Stadtgartenamt, sagen sie, da können Sie bestenfalls eine Heugeig'n (sehr großes, überschlankes Mädchen) bekommen, wenn Sie noch keine Freundin haben.

Dabei hätte ich so gerne eine dieser praktischen Allwettergeigen, mit Nylonsaiten und den F-Löchern auf der Unterseite. Wasser- und schmutzabweisend, wegen der Vögel. Doch es ist müßig, überhaupt darüber zu reden, ich bekomme keine, obwohl dieses Instrument einen echten Fortschritt für meine Arbeit und die Bäume bedeuten würde.

Der Fortschritt, mein Herr, schreitet nämlich ansonsten selten zugunsten des Baumes fort. Der Fortschritt des Menschen ist für den Baum meistens ein Rückschritt. Erst einmal hat eine Erfindung dem Baum genützt, und zwar die Erfindung der Lacksprühdose. Sie hat dazu geführt, daß man die Rinde der Bäume jetzt verschont und auf größere Schreibflächen - Marmorfassaden zum Beispiel, Denkmalsockel aus Sandstein - übergegangen ist.

Weil ich gerade von Schonung spreche: Eines Abends - ich stehe gerade mit meiner Geige unter einem Baum und unterhalte mich mit ihm - kommt ein BMW mit einem Tölzer Kennzeichen und stellt sich mit den Hinterrädern genau auf die Baumwurzeln, während der Auspuff den Stamm anbläst, oder anfurzt, muß ich da schon sagen. Sie werden den Ausdruck verzeihen. Zuchthausmusikant hat der Fahrer mich genannt, als ich ihn höflich darauf aufmerksam gemacht habe. G'scherter Hammel, g'scherter, wäre er wahrscheinlich in seiner Heimat apostrophiert worden, der Bazi. Eine Schandgeige sollte man solchen Leuten anlegen - Sie wissen, wie im Mittelalter, wenn man keinen Pranger im Ort hatte.

Natürlich war der Baum noch Tage darauf verstört und praktisch unansprechbar. Und solche Fälle sind leider heutzutage bereits der Alltag. Deshalb also habe ich mich entschlossen, nicht mehr mit den Bäumen zu diskutieren, sondern ihnen einfach ihre Tage ein wenig zu verschönen, auch wenn sie nicht alle gleichermaßen liebenswürdig sind.

So, wie es immer besser ist, die Nachbarin bei Lebzeiten zu grüßen (für den Baum gilt natürlich: Besser gießen als grüßen), auch wenn sie vielleicht eine alte Hexe ist, als ihr Blumen zur Beerdigung zu schicken. Genau das aber tun die Stadt und die Politiker, welche vor lauter Wahlen nicht die Bäume sehen. Und wenn sie einmal wirklich etwas für einen Baum tun wollen, dann stellen sie ihn unter Naturschutz, weil sie ihm nicht den Professorentitel verleihen können, um ihn zu ehren. Muß er dann irgendwann einmal trotzdem gefällt werden, so erhält er zunächst einen Nachruf in der Presse. Später wird ein kleines Bäumchen auf seinem Grab gepflanzt und eine Straße nach ihm benannt: Akaziengasse, Birkenweg, Kastanienallee!

Und so bin ich halt täglich mit dieser meiner Geige unterwegs. Der Friedel mit der Fiedel, so nennen mich jetzt die Polizisten, die mich am Anfang dieser meiner Tätigkeit häufig wegen Bettelmusizierens - so lautet die offizielle Bezeichnung dafür, womit sie meine Arbeit gerne verwechselt haben - festnehmen wollten.

Der Friedel mit der Fiedel ist leider auch ein Friedel mit der leeren Tasche, ein Parkoberoffizial ohne Portefeuille. Daher auch der geöffnete Geigenkasten zu unseren Füßen. Er enthält die gesamten Mittel für mein Budget, welches daher kaum ein Jahres-, sondern bestenfalls ein Halbtagesbudget sein kann.

Wozu ich das Geld benötige? Natürlich nicht für mich selbst. Ich bin ja pragmatisierter Beamter und stelle von meinem Gehalt sogar die Violinsaiten und das Kolophonium bei. Auch meinen Rock lasse ich auf eigene Kosten putzen. Sie wissen, die Vögel! Nein, von dem erspielten Geld kaufe ich ein paar Flaschen Mineralwasser. Die bekommt dann der Baum, unter welchem ich gespielt habe, bevor ich zum nächsten gehe. Wollen Sie vielleicht auch einen Schluck?