Sysdat

Nach oben

 

DER BEIFALLER

Anton K., Diplomingenieur für Maschinenbau und Beamter der Bundesbahnen im Ruhestand, spendet keinen Beifall. Grundsätzlich nicht. Während seiner aktiven Zeit wegen seiner häufigen lobenden und aufmunternden Worte von den ihm Unterstellten geschätzt, ja fast geliebt, trennt er sich dennoch nie von Beifall, den er, oft unter Aufwendung beträchtlicher Mühen und Kosten, einmal errungen hat.

Nicht, daß K. für eigene Darbietungen, gleich welcher Art, Beifall sammeln würde und danach getrachtet hätte, diesen durch von ihm bezahlte, unauffällig unters Publikum verteilte Beifallspender zu vermehren. Nein, Anton K. sammelt Beifall, der anderen für ihre Darbietungen gespendet wird, und den er mit Hilfe seiner heute aufwendigen, anfangs bescheideneren technischen Einrichtungen auf Tonband festhält, oder aber anderen Tonsammlungen entnimmt, welche den Beifall unter Verkennung seines Wertes aufbewahrt, gleichsam das Bad mit dem Kinde archiviert haben.

Als junger Beamter, als K. noch ein kleines Rädchen im Getriebe der Bundesbahn und als solches ständig auf deren Schienen unterwegs gewesen war, hatte er sich die Zeit an langen Abenden in kleinen ländlichen Zentren, wohin ihn sein Beruf immer wieder gebracht hatte, durch die Teilnahme an kulturellen, politischen und sonstigen Vorträgen vertrieben.

K. kann sich nicht mehr an den Ort, wohl aber an den Vortrag über die richtige Haltung von Kleintieren in einem kleinen oberösterreichischen Pfarrsaal erinnern, als ihm zum ersten Mal zu Bewußtsein gekommen war, daß ihn der dem Vortrag vorangehende Begrüßungsapplaus, die zustimmenden bis kritischen Rufe des Publikums während der Ausführungen und schließlich der den Abend krönende herzliche Beifall mehr faszinierten als das Thema selbst und die gekonnte Behandlung desselben durch den Redner.

Ungefähr zur gleichen Zeit hatte er bemerkt, daß er bei den Rundfunkübertragungen von Orchesterkonzerten, beispielsweise am Sonntagvormittag, gegen Ende des letzten Satzes einer Symphonie immer unruhiger wurde und dem rauschenden Schlußapplaus entgegenfieberte.

Längst war er in der Lage gewesen, den Beifall des Publikums der Philharmonischen Konzerte, welche am Vormittag gegeben wurden, von jenem des Abendpublikums und den Beifall im Großen Saal des Wiener Konzerthauses von jenem im berühmten Goldenen Saal des Musikvereinsgebäudes zu unterscheiden, ja sogar den Begrüßungsapplaus für die Philharmoniker von jenem für ihren Dirigenten, bevor er daran gedacht hatte, sich ein tragbares Tonbandgerät zu kaufen, welches er auch zu Hause am Rundfunkempfänger anschließen konnte.

"Meine verlorenen Jahre" pflegte er später lächelnd zu sagen, wenn er auf diese Zeit angesprochen wurde. Die Einwände seiner Bewunderer, daß wohl der damals nicht auf Tonband festgehaltene Beifall verloren wäre, 'nicht aber die Zeit, welche das Bewußtsein um die Existenz einer bis dahin nicht entsprechend gewürdigten, ja nicht einmal zur Kenntnis genommenen Kunstform hatte reifen lassen', quittierte er mit nachdenklichem Nicken.

Wiederum waren Jahre vergangen, dem ersten Tonbandgerät waren bessere gefolgt, die praktischen Tonkassetten zweierlei Formates samt den zugehörigen Geräten waren erfunden und von ihm erstanden worden, und in seinem Archiv stapelten sich bereits die Tonträger, als er zum ersten Mal an die wissenschaftliche Auswertung des gesammelten Materiales gedacht hatte. Dieser hatte er die Niederschrift einer allgemeinen Definition des Wissenszweiges und eine geeignete Begriffsbestimmung voranstellen wollen.

Beinahe war er bereits bei den ersten Schritten, bei der allerersten Definition, bei der Suche nach einem Namen für seine Wissenschaft gescheitert. Das Streben nach äußerster Klarheit hatte ihn dazu verleitet, das Wort "Beifall" als Definition für alle positiven Äußerungen zu verwenden, "Abfall" im Sinne von "abfällig" für alle negativen, "Zwiefall" für zweifelnde und das reine "Fall" als Überbegriff.

Die Niederschrift des Titels "Die Lehre vom Fall" hatte den studierten Techniker seinen Irrtum erkennen lassen. Kurz vor der totalen Resignation war er darauf gekommen, das Wort "Beifall" (lat.-dt. Akklamation) sowohl als Überbegriff, als auch für die positiven Äußerungen zu verwenden und Mißfall (engl. refuse) für die negativen. Die zweifelnden Zwischenrufe ("das schau' ich mir aber an!") waren je nach ihrer Tendenz den positiven oder den negativen Äußerungen zuzurechnen.

Geschult in linearem Denken durch langjährige verantwortliche Beschäftigung mit den Fahrplänen der Bahn hatte er damit begonnen, den Beifall - sowohl positiv als auch negativ - auf seine Entstehung zu untersuchen. So unterschied er zwischen humanem und instrumentalem Beifall.

Der humane gliedert sich in den vokalen, den manuellen und den pedalen Beifall. (Nach langem Ringen hatte er sich entschlossen, den - zudem selten spontanen - analen Mißfallenslaut von seinen Überlegungen auszuschließen). Während der manuelle vornehmlich als Händeklatschen und der pedale als Trampeln mit den Füßen keiner weiteren Erklärung bedarf, sollte auf die einzelnen Möglichkeiten des vokalen Beifalles hingewiesen werden.

Vokal kann nämlich sowohl verbal im klassischen Sinne (Vivat- oder Hochrufe einerseits, Schmährufe anderseits) oder alphanumerisch (noch1x) sein, als auch einfach geräuschhaft und somit schriftlich nur unzureichend festzuhalten, wie beispielsweise Gelächter (positiv bis negativ, als höhnisches Gelächter) oder jener überaus negative Laut, der vor allem in Italien (pernacchio in Neapel, pernacchia im übrigen Italien) oder England durch das Hervorstoßen von Luft aus dem Munde unter gleichzeitiger, dadurch bedingter Vibration der Zunge entsteht.

Auch Pfiffe, soferne sie ohne Instrument erzeugt, werden (als Grenzfall) dem vokalen Beifall zugerechnet, obwohl sie manchmal unter Zuhilfenahme der Finger hervorgebracht werden.

Der instrumentale Beifall reicht vom Geräusch der Sessel, welche bei Elvis Presleys Konzerten zertrümmert wurden (Jailhouse Rock!) bis zum Zischen der Raketen, welche im Stadion von Neapel nach dem Sieg über den AS Roma abgefeuert werden. Einen Grenzfall zwischen humanem und instrumentalem Beifall stellt das Geräusch von Maßkrügen (tote Materie) dar, welche auf den Köpfen menschlicher (= humaner) Wesen zertrümmert werden. Anton K. hat diese Problematik aufgezeigt, aber nicht zu lösen vermocht (oder gewollt).

Einen weiteren offenen Punkt ("ich will auch anderen noch etwas zum Nachdenken lassen") stellt das (z. B. betretene) Schweigen dar, weil nicht immer eindeutig zu klären ist, ob es sich dabei tatsächlich um unterlassene vokale oder (und?) instrumentale Beifallsäußerungen handelt. In den meisten Fällen läßt sich jedoch aus dem Kontext zumindest die Tendenz des Schweigens bzw. der Beifallsabstinenz - positiv oder negativ - eindeutig klären.

Auch eindeutig vokale, ja verbale Beifallsäußerungen lassen sich oft nur im Zusammenhang bewerten ("I wia' narrisch!" des Rundfunkreporters anläßlich der Fußballweltmeisterschaft in Argentinien ist ein gutes Beispiel dafür).

Jeder summarische Beifall bedarf seiner Zerlegung in die einzelnen Komponenten positiver oder negativer Natur, bevor über die Aufnahme der Darbietung seitens des Publikums eine schlüssige Aussage gemacht werden kann. Anton K. hat sich die Achtung der Historiker damit erworben, daß er das mißbilligende Schweigen der überwältigenden Mehrheit anläßlich A. Hitlers Darbietung am Wiener Heldenplatz im Jahre 1938 aus einer historischen Aufnahme eindeutig analysiert, quantifiziert und klassifiziert und somit über die Aufnahme besagter Darbietung seitens des aus allen Bundesländern herbei geströmten Publikums völlig neue Aspekte eröffnet hat.

Anton K. hat die Fundamente für eine neue Wissenschaft gelegt, vielleicht auch den Keller und das Erdgeschoß erbaut. Die weiteren Stockwerke überläßt er Jüngeren. Durch das vorgerückte Alter etwas weniger beweglich geworden, beschränkt er sich zumeist auf die Aufnahme von Beifall aus dem Rundfunk, seltener vom Fernsehen. Seine gute Pension als ehemaliger Angestellter der Bundesbahnen und sein Ruf als Gelehrter erlauben ihm, die Früchte seiner Sammlertätigkeit frei von finanziellen Sorgen zu genießen.

Durch einen außerordentlichen Glücksfall bzw. eine Anzeige in der "Frankfurter Allgemeinen" ist er auf einen gewissen Böll gestoßen, welcher ihm ein absolut lautloses Tonband mit dem Titel "Dr. Murkes gesammeltes Schweigen" überlassen hat. Dieses Tonband (für den Alltag natürlich nur eine Kopie davon) hört Anton K. zwischen den aufwühlenden Darbietungen seiner Beifallssammlung, ähnlich dem Weinkoster, welcher zwischen zwei edlen Tropfen ein Stück Brot verzehrt.

Der allgemeine Preisverfall in der Unterhaltungselektronik hat es Anton K. erlaubt, an verschiedenen Orten seines Domizils Geräte zu installieren, welche, stimuliert durch einfallsreiche Impulsgeber, einzelne Akustikstücke seiner Sammlung an verschiedenen Orten ertönen lassen. K. versäumt es nicht, gelegentlich die Tonbänder dieser Geräte neu zu bespielen, diesmal ähnlich dem Sammler, welcher in Wechselrahmen ständig neue Graphiken seines Schatzes dem Auge darbietet. So betritt Anton K. gegenwärtig seine Wohnung unter dem gedämpften Beifall, welcher der Regierungserklärung Präsident Reagans voranging, schreitet fort in sein Wohnzimmer unter dem Schlußapplaus des Neujahrskonzertes aus dem Jahre 1968 (Radetzkymarsch!) und begibt sich zur Ruhe unter dem spärlichen Händeklatschen der Fluggäste anläßlich der Landung einer BOING 707 in Wien-Schwechat am 16. Jänner 1972.

Im Augenblick, da diese Geschichte endet, streift sich Anton K. die Hosenträger über die Schultern, während das Geräusch der Spülung übertönt wird vom wütenden Pfeifkonzert, das jene Schiedsrichterentscheidung begleitete, welche im Jahre 1956 dem italienischen Boxer Fausto Cinelli zum Weltmeistertitel im Bantamgewicht verholfen hat.