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BAUMEISTER, ING.

Wie schon an anderen Tagen, wenn ihm seine Frau angekündigt hatte, er würde sie bei seiner Heimkehr vom Büro nicht zuhause antreffen, weil sie am Abend mit einer Freundin eine Kinovorstellung besuchen würde, blieb er nach Büroschluß noch an seinem Arbeitsplatz.

Alleine im ganzen Büro und, vor allem, alleine in seinem Zimmer, welches er seit geraumer Zeit mit einer ständig wachsenden Anzahl sogenannter Mitarbeiter zu teilen hatte, welche ihm sein dynamischer Chef einen nach dem anderen buchstäblich vor die Nase gesetzt hatte, nahm er die Schere zur Hand und schnitt sich mit gewohnter Bewegung ein Blatt von der Rolle mit dem Zeichenpapier.

Trübe Gedanken stiegen in ihm auf, während er das makellos saubere Blatt ("jungfräulich" würde sein Chef sagen) auf das Zeichenbrett legte, welches, wie alle anderen Gegenstände im Raume auch, Spuren aufwies von der Tätigkeit seiner Mitarbeiter, die er bei sich "seine Mitabbeutler" nannte, da sie jegliche Arbeit von sich abbeutelten und es ihm überließen, dieselbe zu erledigen und ansonsten den Schaden, welchen sie anrichteten, so gut wie möglich in Grenzen zu halten (der Ausdruck "minimieren" wäre vom Ergebnis her nicht zu rechtfertigen).

Wie angenehm - und er befestigte das Blatt an seinen vier Ecken mittels eines Klebebandes auf dem Zeichenbrett - war es gewesen, als er morgens nach Arbeitsbeginn den ersten und damals einzigen seiner Mitarbeiter zum Kauf einer Tageszeitung ausgeschickt und sich jenen somit für die nächsten Stunden - zunächst durch die Besorgung der Zeitung, dann durch deren Lektüre und schließlich durch das Lösen des täglichen Kreuzwort-Preisrätsels dieses Blattes - vom Halse geschafft hatte.

"Nun, wie macht er sich denn?" hatte ihn damals sein dynamischer Chef in verschwörerischem Tone gefragt. "Er macht sich, er macht sich..." hatte er geantwortet, und den zweiten Teil des Satzes verschwiegen: "Er macht sich nicht viel aus Arbeit" hätte er antworten wollen.

"Er versteht sich auch nicht auf seine Arbeit, noch versteht er sich mit ihr. Selbst seine Schulkenntnisse nützt er nur so, daß sie zu nichts nütze sind. Im Kreuzworträtsel, ja: 'Seitliche Wandfläche bei Fensternische' mit 9 Buchstaben: 'Spallette'. Aber auf einem Polierplan, einem Bauplan, den der Herr Polier, dessen Namen mit dem Wort "parlieren" verwandt ist, der also für die Arbeiter oder zu diesen spricht, auf der Baustelle zur Hand nimmt, um das Bauwerk gemeinsam mit eben diesen Arbeitern zu errichten, da zeichnet er die Spallettlichte nicht ein. Die lichte Weite, welche sich zwischen den beiden "Schulterchen" der Wand befindet, die kann sich der Herr Polier selber ausdenken, da verwechselt er die Spallette mit dem Parapett, der "Brustwehr", und den Fensterstock mit dem 'berühmten Militärmusikstück' mit 14 Buchstaben, mit dem Radetzkymarsch, und der Herr Polier, der kann sich brausen. Ja, er macht sich, und mich macht er auch, nämlich fertig." Das hätte er sagen sollen.

"Und wie hält er sich denn?" hatte der Chef gefragt. "Er hält sich selber für besonders tüchtig und mich hält er auf" hätte er sagen sollen, aber da war der dynamische Chef schon wieder aus dem Zimmer.

Ein einziges Mal hatte er zu rebellieren versucht: "Was hat er denn heute geschafft, unser Neuer?" hatte ihn der Chef am Abend gefragt. "Mich hat er geschafft, und zwar komplett". Da hatte ihn der Chef verständnislos angesehen und ihm rasch hinauseilend einen schönen Abend gewünscht.

Eine leichte Besserung war eingetreten, als der zuständige Redakteur des bewußten Tagblattes dasselbe um ein zweites tägliches Kreuzworträtsel bereichert hatte, und für einige Wochen schien sich der paradiesische Zustand der ungestörten Beschäftigung mit den geliebten Bauplänen wieder eingestellt zu haben, als der Mitarbeiter für einige Wochen zufolge einer hartnäckigen Darmgrippe, vielleicht auch wegen der Umstellung auf weniger bekömmliche Kost, den größten Teil der Arbeitszeit in einem bestimmten Nebenraum, dessen Grundfläche nach der Bauordnung für Wien nicht weniger als einen Quadratmeter und dessen Breite nicht weniger als 80cm betragen durfte, verbrachte.

In diesen Wochen, erinnerte er sich, während er seine gut gepflegte Tuschefeder zur Hand nahm, war es ihm in 5 Minuten nach Büroschluß mühelos gelungen, das Tagewerk seines Kollegen auszuradieren und richtig wiederherzustellen. Sein Chef hatte damals gemeint, daß sich der Neue endlich eingewöhnt, er endlich Wurzeln geschlagen hätte. Wieder hatte er es versäumt, den Chef über Ort und vermutliche Ursache dieser Verwurzelung aufzuklären, und er hatte an diesem Abend sogar ein Stückchen mehr am Plan eingetragen, als er zuvor wegradiert hatte.

Es war dies der falsche Weg gewesen: Erfreut über die fruchtbare Tätigkeit des Neuen hatte der Chef beschlossen, einen weiteren Neuen, einen Noch-Neueren, einzustellen. "Ihm zur Seite" hatte der Chef gesagt, "mir auf den Buckel", hatte er damals gedacht. Der nunmehrige Ganz-Neue war nicht alleine gekommen: Er hatte auch sein tragbares Rundfunkgerät mitgebracht, und damit war die Zwietracht im Büro eingekehrt: Störte doch die Musik des Ganz-Neuen den Nicht-mehr-Neuen und (sei es zufolge ärztlicher Kunst, sei es durch abermaliges Umsteigen auf diesmal bekömmlichere Kost) wiederum Genesenen beim Auflösen der Kreuzworträtsel.

Die Situation hatte sich damit allerdings noch nicht dramatisch verschlechtert: Mit zehn Minuten Arbeit nach Dienstschluß war es ihm zumeist (ausgenommen jene Abende, da der Chef leutselig seine Nähe suchte) gelungen, die untertags entstandenen Linien auszubessern, Höhen-, Längen-, Breiten- und sonstige Maßangaben richtigzustellen und den begonnenen Plänen zu einem bescheidenen Fortschritt zu verhelfen.

Zu bescheiden allerdings war der Fortschritt gewesen, weil der Chef, unbefriedigt von der geringen Arbeitsleistung von drei Personen, in der Folge weitere Mitarbeiter angestellt hatte. Außerdem hatte er angeordnet, daß die Pläne "im Teamwork" herzustellen seien. "Sie haben die Erfahrung, die Jungen bringen die Leistung." Und mich ins Grab, hatte er damals gedacht, oder zumindest an den Rand der Verzweiflung.

Von nun an hatte er den größten Teil seiner Zeit damit verbracht, die Jungen, unter denen sich auch einige durchaus arbeitswillige befanden, von den Plänen wegzuscheuchen, die er in der restlichen Zeit mühsam herstellte.

Vollends die Kontrolle hatte er zu dem Zeitpunkt verloren, als der Chef, der sich nun als "Not Playing Captain" des Büros bezeichnete, die Plangröße auf das beschränkte, was er das "Euroformat" nannte: Die Pläne wurden immer kleiner und ähnelten immer mehr gewissen Rubbelbildern, denen sie auch in ihrem Gehalt an Überraschungen und Information glichen: Von den auf den Plänen enthaltenen Angaben waren einige wenige ganz richtig, andere kamen zumindest der Wahrheit in die Nähe. Die meisten waren Nieten.

Als die Pläne immer kleiner wurden, gelang es den Jungen, die der Chef mittlerweile "mein junges dynamisches Team" nannte, immer öfter, einen Mini-Plan fertigzustellen und ohne sein Wissen auf die Baustelle zu schmuggeln, wo er vermutlich nach Bestätigung der Übernahme weggeworfen wurde.

Seufzend legte er seine Tuschefeder wieder weg. Er war alt geworden und würde vermutlich nicht mehr ergründen, nach welchen Angaben die Bauwerke, die sich in der ganzen Stadt bedrohlich erhoben, tatsächlich gebaut wurden. Seine Pläne waren es jedenfalls schon lange nicht mehr.

Es war spät geworden. Er setzte die Schutzkappe auf seine Tuschefeder und löste sorgfältig die vier Klebestreifen von den Ecken seines immer noch leeren Zeichenblattes. Dann rollte er das Blatt zusammen und legte es auf das Regal zu den anderen Plänen, welche am nächsten Tag vervielfältigt und auf die Baustellen gebracht werden würden.

Dann begab er sich müden Schrittes in das Zimmer seines Chefs, entnahm dessen Bücherkasten die Flasche mit dem 12 Years Old und schenkte sich ein Glas voll.